Der ukrainisch-jüdische Friedensaktivist, sein deutscher Urenkel und wie man als Russe zum Familienduell kommt
AUSGEZEICHNET BEI 6 TAGE FREI 2024
Löwenkinder wurde 2024 ausgezeichnet mit der Teilnahme am Festival
6 Tage Frei für die freien Darstellenden Künste in Baden-Württemberg.
FESTIVAL-GASTSPIEL:
29.04.2024 / 19 Uhr / JES-Stuttgart
Ein Theaterabend über eine besondere Migrationsgeschichte
Von Nikita Gorbunov und Boglárka Pap
„Als mein Urgroßvater Lew so alt war wie ich, saß er schon seit Jahren im Lager. Er hatte sich beim Einmarsch der Roten Armee für deutsche Zivilisten eingesetzt, das kam im Kreml nicht so gut an.
Aber später in Köln haben sie einen kleinen Weg nach ihm benannt. Denn er kam nach Deutschland als Humanist. Ich dagegen kam nach Deutschland einfach so. Als sowjetischer Migrant. Ich hatte hier keine Bedeutung. Ich hatte nur eine alleinerziehende Mutter.
Verstehen Sie mich nicht falsch, immer wenn ich als diensthabender Ausländer auf einer Bühne stand, hab ich alles bereichert, was ging. Aber als ich erfuhr, dass ich unter Umständen auch noch jüdisch bin… Ich weiß nicht, ob ich den Job auch noch machen kann.“
Gemeinsam mit der Regisseurin Boglárka Pap unternimmt der Stuttgarter Autor und Performer Nikita Gorbunov eine Stückentwicklung über einen besonderen Aspekt deutscher Migrationsgeschichte.
CAST:
Nikita Gorbunov
Max Böttcher
Regie: Boglárka Pap
Assistenz: Franziska Goth
Ausstattung: Line Sexauer
Visuals: A. Bischoff
Er bearbeitet dabei die Biografie seines Urgroßvaters Lew Kopelew und stellt ihm seine eigene familiäre Backstory gegenüber. Dabei begegnet er Siegern und Verfolgten; findet Wagemut, Ohnmacht und haarsträubende Zufälle.
LÖWENKINDER ist eine intensive Collage von Schauspiel, Texten und Songs über die kleinen und großen Gefühle angesichts der großen und kleinen Geschichte.
Aus aktuellem Anlass
Das Stück LÖWENKINDER wurde fertiggestellt, bevor das verbrecherische Regime von Putin seinen Krieg entfesselt hat – gegen die Ukraine, gegen die Freiheit, gegen unsere Zukunft. Jetzt scheint nichts schwieriger als eine deutsch-jüdisch-russische Familiengeschichte zu zeigen. Aber wir erzählen von Lew Kopelew. Er war ein Friedensaktivist aus Kyjiw, aus Moskau und aus Köln. Es schien nie richtiger als jetzt, an ihn zu erinnern.
Das Forum in Lew Kopelews Namen bezieht klar Stellung: kopelew-forum.de/
Und wir sind in Gedanken bei den Menschen der Ukraine, aber auch bei den mutigen Russ:innen mit Gewissen: youtube.com/поулярнаяполитика … Gut, dass Lew Sinowjewitsch – aufgewachsen in Kyjiw und Charkiw, gelebt in Moskau, gestorben in Köln – diese Schande nicht mehr mit ansehen musste. Aber seine Lebensgeschichte zeigt uns einen möglichen Ausweg!
PRESSE
STUTTGARTER NACHRICHTEN (24.02.2022): Deutscher, Russe, Jude, Stuttgarter? – Kopelews Urenkel stellt die Identitätsfrage
STUTTGARTER ZEITUNG (24.02.2022): Vorankündigung / Premiere im La Lune
EßLINGER ZEITUNG (17.05.2022): Nikita Gorbunov erkundet die Familiengeschichte
EINDRÜCKE
Bilder von Wolfgang Kuhnle
LEW KOPELEW
UND DIE HINTER-GRÜNDE
Ausgangspunkt des Abends ist das bemerkenswerte Leben von Lew Kopelew. 1912 in eine jüdische Familie in der Ukraine geboren, verliert der überzeugte Atheist seine Großeltern an die Nazis im Massaker von Babyn Jar. Als die Rote Armee in Ostpreußen einmarschiert, nutzt Kopelew seine Position als Major, um sich für eine menschliche Behandlung der Deutschen einzusetzen. Für dieses „Mitleid mit dem Feind“ wird er zu insgesamt 10 Jahren verurteilt und landet zufällig in einem GULAG mit dem späteren Literatur-Nobelpreisträger Solschenizyn. Auch nach der Lagerzeit bleibt er in Moskau politisch engagiert und wird für die Unterstützung von Andrei Sacharow aus der UDSSR ausgebürgert. Er landet bei seinem Freund Heinrich Böll in Köln, wo er ein prominenter Humanist bleibt. Kopelews „Mitleid mit dem Feind“ bleibt in Deutschland das Motiv seines Lebens. Er arbeitet unermüdlich für eine versöhnende Überwindung unserer dunklen Geschichte. Ein kleiner Weg ist in Köln nach ihm benannt. Doch welche Bedeutung hat Lew noch für das diverse Deutschland der Gegenwart?
In dieser besagten Gegenwart, im Windschatten statt im Zentrum der Weltgeschichte, leben heute Lews (Russisch=”Löwe”) Nachkommen. Die “Löwenkinder” kommen 1990 als “jüdische Kontingentflüchtlinge”. Auch ihr Leben ist exemplarisch für Deutschlands Selbstbild und Umgang mit dem jüdischen Leben, aber auf eine andere Art: Es erzählt von verworrener Migration.
Lews zweite Tochter kämpft in Deutschland nicht für Versöhnung, sondern mit Sprachkursen. Seine Enkelin kommt als Alleinerziehende und wird Lohnbuchhalterin auf dem zweiten Bildungsweg. Lews Urenkel, Nikita Gorbunov, ist heute eine Art Entertainer in Stuttgart. Er lebt von Kurzauftritten, kleinen Theaterprojekten und Jugendarbeit mit anderen Migrant*innen.